Dreissig. Und alles im Griff.

«Mit 30 hat man sein Leben im Griff», wurde mir vor einiger Zeit gesagt. Ich weiss nicht mehr von wem. Es könnte ein 29-Jähriger gewesen sein, der sein Leben nicht im Griff hatte und der den Satz immer wieder mantraartig vor sich hin betete. Es könnte auch meine fünfjährige Nichte gewesen sein. Sie gewann bisher regelmässig gegen mich im Memory, worauf ich bemitleidende Blicke erntete, die mich subtil darauf hingewiesen haben, dass ich auch nicht mehr ewig Zeit hätte, mein Leben in den Griff zu bekommen. Seit sie erfahren hat, dass ich 30 werde, fragt sie nicht mehr, ob ich mit ihr spiele. 

30 also. Ich setzte mich in den samtgepolsterten Ohrensessel, den ich damals in der Brockenstube zusammen mit dem Kronleuchter ergattert hatte. Der hängt nun schon seit gut einem Jahr über dem Esstisch – provisorisch an der Deckenlampe, mit einer Schnur befestigt. ­Irgendwie finde ich das charmant. Zwei der sechs Glühbirnen hat ein Freund mal herausgedreht, da der Dimmer kaputt gegangen war und er eine ­romantische Stimmung wollte. Bald kommen die ersten Gäste. Ich gehe ins Esszimmer und drehe zwei weitere Glühbirnen am Kronleuchter heraus. Die Discokugel hängt da, wo sie immer hängt. Die Scheinwerfer lassen alles, was sich in meinem bisherigen Leben in dieser Wohnung angesammelt hat, in farbigen Lichtern aufleuchten. Im Hintergrund singt Tracy Chapman etwas von einer Revolution und schnellen Autos. Älter zu werden, erscheint mir plötzlich albern, beinahe bizarr. Als müsse man sich für etwas verantworten, wofür man gar nichts kann. Und wieso feiert man das auch noch? 

Plötzlich überkommt mich unerwartet das Gefühl, dass ich bereits sehr viel weiss, und ich frage mich, ob ich ab jetzt eigentlich noch quantitativ dazulerne oder ob ich neues Wissen von nun an immer gegen etwas eintauschen muss, das dann vergessen geht. Wie wäre die Welt, wenn wir mit Wissen umgehen könnten wie mit Möbeln? Ich stelle mir ein Brockenhaus vor, wo ich Wissen abladen kann, das ich nicht mehr brauche, jemand anderem vielleicht aber noch Freude bereitet. Die Discokugel wirft verspielte Lichtflecken prismatisch durch den Lamettavorhang. Mein Neffe hat mich vor zwei Wochen gefragt, was Lametta sei. Ich dachte, er würde sich diesen freien Platz für Wissen doch lieber für etwas Bedeutsameres freihalten. Da er jedoch nicht lockerliess, holte ich meinen Lamettavorrat vom Dachstock, was mich auf die Idee brachte, diesen aus heutigem Anlass aufzubrauchen und gleichzeitig im Dachstock Platz für etwas Neues zu schaffen. Nun hängt überall Lametta von den Wänden und Decken. Ich streiche über die Armlehne des Sessels. In wie vielen Wohnungen der wohl schon gestanden hat? Wie viele Menschen wohl schon in ihm sassen und sich dabei fragten, in wie vielen Wohnungen er schon gestanden hat? Gerade als mir Bobby McFerrin sagt, ich solle mich nicht sorgen und glücklich sein, geht die Tür auf und mein vier Jahre älterer Bruder kommt rein. Er trägt das Gesicht voller Glitzer und hat einen grünen Filzhut auf. Er umarmt mich, wünscht mir alles Gute und sagt: «Na, alter Junge. Schön, hast du das Leben auch endlich im Griff!»

Wort
Jonas Balmer 

Der 21-jährige Slam-Poet studiert Kulturanthropologie sowie Philosophie an der Universität Basel. In seinem Text stellt er sich vor, wie er die Welt mit 30 wohl sehen mag.

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