Wort: Bernadette Bissig / Bild: Annett Landsmann
Das Konzept des Hallenwohnens entstand einst im Umfeld der Besetzerszene. Im Zollhaus im Zürcher Kreis 5 ist diese flexible, gemeinschaftliche Lebensform seit rund drei Jahren in den regulären Wohnungsbau integriert. Die Genossenschaft Kalkbreite hat damit neue, unkonventionelle Wege beschritten. Ganz so partizipativ wie zu Beginn angedacht, liessen sich die Hallen jedoch schlussendlich nicht umsetzen.
Wer in einer der vier Hallenwohnungen im Zollhaus direkt an den Bahngleisen im Zürcher Langstrassenquartier lebt, liebt unkonventionelle Wohnformen, ist gerne handwerklich tätig und begnügt sich mit wenig privatem Raum, profitiert jedoch im Gegenzug von grosszügigen Gemeinschaftsräumen und sozialer Einbindung. Die Zürcher Genossenschaft Kalkbreite ist eine der ersten Institutionen, die diese alternative, lebendige Wohnform, die sich bis anhin meist in leer stehenden Gewerbehallen im Graubereich zwischen Illegalität und Legalität manifestiert hatte, in ihr Angebot integrierte. Bis zu einem ausgereiften Konzept war es ein langer Weg, der sich über mehrere Jahre hinzog. Zu Beginn beabsichtigte die Genossenschaft die Realisierung von zwei Hallen in Turnhallengrösse und wollte dabei den zukünftigen Mieterinnen und Mietern den gesamten Ausbau überlassen. Dies stellte sich jedoch für die einzelnen Parteien als baulich und bewilligungstechnisch als zu komplex heraus. So galt es, eine Neukonzipierung vorzunehmen. Die Genossenschaft liess in diesem Schritt bewilligungspflichtige Komponenten des Ausbaus wie Nasszellen, Küche, Lüftung sowie eine maximal mögliche Anzahl an Zwischenwänden baurechtlich absegnen und sah anstatt der zwei grossen Hallen acht kleinere Einheiten vor. Im zweiten Bewerbungsprozess konnten sich die Mieterkollektive auf mehrere Einheiten bewerben und aus den vorgesehenen Zwischenwänden die gewünschte Anzahl auswählen.
Konzept von mobilen Einheiten
Schlussendlich wurden vier Hallenwohnungen in vier verschiedenen Grössen realisiert. Bei der kleinsten war durch ihre reduzierte Dimension bereits vieles vorgegeben. Bei der M- und L-Halle setzten die Bewohnenden auf kleine private abgetrennte Zimmer, um die gemeinsamen Räume möglichst grosszügig zu gestalten. Die XL-Halle des Vereins Zurwollke ist deren grösste. Das Kollektiv bekam damals den Zuschlag für vier Einheiten, was zu einer Hallenwohnung von 275 Quadratmetern führte. Im Gegensatz zu den anderen drei Parteien verzichtete die Gruppe gänzlich auf den Einbau von Zwischenwänden, da sie aus vorhergehenden Hallenwohnprojekten ein Konzept von mobilen Wohntürmen entwickelt hatte, die ihnen viel Flexibilität in der Anordnung der privaten Räume sowie der Gemeinschaftsbereiche ermöglichte. So steht jeder erwachsenen Person des Kollektivs ein mobiler Wohnturm von 3 auf 3 Metern zur Verfügung. Da die Raumhöhe 4,15 Meter, sprich eineinhalb Geschosshöhen beträgt, sind die Türme auf zwei Etagen angelegt. Dadurch kann die vorhandene Fläche optimal und kompakt genutzt werden – ja nach Wahl 9 oder 18 Quadratmeter. Die Bewohnenden haben ihre privaten Räumlichkeiten ganz individuell mit unterschiedlichen Materialien gestaltet. Die einen tüftelten minutiös an Entwürfen, liessen die Türme dann jedoch aufgrund von engen Zeitbudgets von Profis bauen, andere zimmerten sich diese in einfacherer Ausführung eigenhändig zusammen. Teils sind die Schlafräume unten angesiedelt, teils im oberen Stock. Teils gibt es Galerien, teils können die einzelnen Wohntürme verbunden werden oder sind mit mobilen Treppen erklimmbar.
Diese modularen Einheiten stellen die Bewohnenden alle paar Monate um oder ordnen sie so an, dass Platz für Events und Feiern entstehen. Ganz so einfach wie in ihren Vorgängerprojekten ist das Umstellen der Wohntürme jedoch nicht mehr, da die Halle durch die vier fix installierten Nasszellen und die Küche bereits unverrückbare Unterteilungen aufweist.
Langjährige Erfahrung
Mätti Wüthrich und seine Partnerin Eva Maria Küpfer sind Teil der Kerngruppe des Vereins und äusserst erprobt im Hallenwohnen. Das Paar startete sein erstes Hallenwohn-Projekt vor rund 20 Jahren auf dem Labitzke-Areal in Zürich-Altstetten. Danach folgte eine Zwischennutzung auf einem Areal an der Zürcher Hohlstrasse, wo sie mit einer Gruppe von Gleichgesinnten das Hallenwohnen weiterführten.
Parallel zu diesem wiederum zeitlich begrenzten Zwischennutzungsprojekt begannen sich Küpfer und Wüthrich nach zukunftsgerichteten Optionen umzusehen, da sie sich mit dem Wohnen in Atelier- und Gewerbeflächen in der juristischen Grauzone befanden. Als junge Familie war für sie jedoch spätestens bei der Einschulung der Kinder ein fester Wohnsitz Bedingung. «Von der Form des Hallenwohnens abzurücken, war für uns kein Thema. Es gibt für uns keine Alternative zur Halle», sind die beiden überzeugt. Möglichkeiten einer Fortsetzung sahen sie bei einer progressiven Baugenossenschaft. So engagierte sich Wüthrich bei der Genossenschaft Kalkbreite in einem der Partizipationsprozesse zur Entwicklung eines Bau- und Nutzungskonzeptes für das zukünftige Zollhaus. Auf der Basis dieses ersten Konzeptes entstand in der Folge die Grundlage für einen Architekturwettbewerb, bei dem auch die Form des Hallenwohnens integriert war.
Flexibler Edelrohbau
Für das Architekturbüro Enzmann Fischer, deren Wettbewerbseingabe sich als Siegerprojekt durchgesetzt hatte, war das Planen von Hallenwohnungen ein Novum. «Es galt für uns, den Anspruch Architektur zu machen, hinter uns zu lassen. Wir hatten einen Edelrohbau mit grösstmöglicher Flexibilität zu planen und den Ausbau den jeweiligen Mietkollektivs zu überlassen», erläutert Philipp Fischer den Entwurfsprozess. Der Architekt sieht in dieser Wohnform ein grosses Potenzial, das bei vielen Menschen auf Anklang stossen könnte. Denn einerseits komme das Hallenwohnen den aktuellen, gesellschaftlichen Herausforderungen nach Verdichtung und Suffizienz entgegen – wenn die Nutzungsdichte von vornherein entsprechend festgelegt sei. Andererseits entspreche dieser Ansatz einem Bedürfnis von vielen nach etwas Eigenem, nach etwas selbst Gestaltbarem, nach etwas selbst Gebautem.
Sozial eingebettet
Wüthrich und Küfer fühlen sich in ihren privaten Räumen wie in einem Tiny House, jedoch mit grosszügig nutzbarem Umfeld und sozialer Einbettung. Zudem verändern sich ihre Blickwinkel mit den regelmässigen Umstellaktionen stetig. Im Winter etwa werden die rollbaren Wohntürme zum Innenhof hin angeordnet, damit das Licht südseitig in den offenen Bereich einfallen kann. Im Sommer hingegen zur Langstrasse hin, sodass der Gemeinschaftsbereich direkt zum kühlen, bepflanzten Innenhof mündet. «Neben einer neuen Anordnung bringt das Umstellen den Vorteil mit sich, dass sich niemand wegen eines unattraktiven Platzes benachteiligt fühlt und das Private regelmässig neu geordnet werden muss», erzählt Küpfer.
Darüber hinaus hat sich das Kollektiv, das sich aus zwölf Erwachsenen, fünf Kindern und fünf temporären Nutzenden von Atelier- oder Co-Workingflächen zusammensetzt, seit Kurzem für eine neue Aufteilung der Halle entschieden. Denn die Bedürfnisse waren nicht mehr deckungsgleich. Nun gibt es einen ruhigeren Bereich für die Eltern mit Kindern und einen lebendigeren für Erwachsene ohne Kinder sowie für die temporär anwesenden Nutzenden. Dieser neuen Anordnung geht ein Prozess des Aushandelns voraus und zeigt, wie viel Neues in solch einer flexiblen Wohnform möglich ist. Doch dies bedeutet auch einen Einsatz an zeitlichen Ressourcen für die Gemeinschaft: «Wenn eine solche Wohnform gelingen soll, dann müssen sich alle Beteiligten aktiv einbringen. Der Aufwand liegt etwa bei vier bis acht Stunden pro Woche, das kommt etwa einem Arbeitspensum von 10 bis 20 Prozent gleich», sagt Wüthrich. Dass sich dies lohnt, davon ist das Paar überzeugt. Und nicht nur die beiden, sondern das gesamte Mietkollektiv, wie die geringe Fluktuation in ihrer Halle Zurwollke zeigt.
Mittlerweile sind weitere Hallenwohnprojekte geplant oder umgesetzt worden, so etwa in Bern, in Basel oder in Luzern. Und auf dem ehemaligen Kochareal in Zürich entstehen im Rahmen von genossenschaftlichem Wohnungsbau weitere Hallenwohnungen. So hat sich diese einst illegale Wohnform mittlerweile in der Legalität etablieren können.
Zum Projekt
Das aus drei Gebäudeteilen bestehende Zollhaus in der Nähe des Zürcher Bahnhofes und direkt an den Gleisen gelegen, bietet ein vielfältiges Angebot für Wohnen, Arbeiten und Kultur. Nach der Siedlung Kalkbreite ist die Liegenschaft das zweite Projekt der Genossenschaft Kalkbreite, die sich für innovative Lösungen beim Wohnungsbau starkmacht. Neben dem Hallenwohnen umfasst das Projekt 50 Wohnungen – für Familien, für kleinere und grössere Wohngemeinschaften sowie fürs Wohnen im Alter. Eine Besonderheit, die das Projekt von Enzmann Fischer auszeichnet, ist ein Innenhof im Gebäude an der Ecke Langstrasse, Zollstrasse sowie eine rund 968 Quadratmeter grosse Dachterrasse, die den Bewohnenden als Gemüsegarten dient, Schatten bietet und dem Kindergarten Zollstrasse als Spielplatz dient. Darüber hinaus sind im Zollhaus vielfältige Gewerberäume integriert. Im Erdgeschoss befinden sich Verkaufs-, Ausstellungs- und Gastronomielokale sowie ein Theatersaal. In den darüberliegenden Geschossen sind ein Guesthouse, Meetingräume, Büro- und Dienstleistungsflächen sowie ein städtischer Kindergarten angesiedelt.