Vorgärten explodieren

Es ist Frühling geworden, ich hab es verpasst. Die wurzelnden Blätter, das nistende Zwitschern im Laub, der fallende Himmel schabte am Glas. Doch ich, ich sass die ganze Zeit hinter dem Fenster, in Zimmern, in Zügen, und bekam nichts davon mit. Zwischen dem eifrigen Unialltag, verstreuten Slam-Auftritten, Sitzungen, Theaterprojekten, Termitenterminen und tickenden Mückenminuten blieb mir keine Zeit, um mich im Jahreszeitentrubel zu orientieren. Mir ist der Blick nach draussen abhandengekommen. Der Winter scheint unsterblich zu sein, wenn man sich nur noch mit Noise-Cancelling-Kopfhörern in die Stadt ­begibt und von Ort zu Ort hastet, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Plötzlich allerdings wird mir die Winterjacke zu warm, ich schwitze schon fast. Und denke mir doch nichts dabei. Dann blendet mich der gleissende Morgen, und ich blinzle noch sonnenbrillenunbewaffnet ins Licht. Und denke mir doch nichts dabei. Die Tage werden langgezogen, ich staune ab dem hellen Flimmern der Himmelspixel, wenn ich aus späten Vorlesungen stolpere. Und ich wundere mich über die freundlichen Gesichter, die sich aus den Kragen der Mäntel emporwagen und ihr Lächeln wie Blumen verschenken. Als ich eines Tages von der Zugkapsel in die Buskoje hüpfen will, erhasche ich einen Hauch Grün. «Oh», denke ich, «die Grünabfuhr. Stimmt, der Kompost muss noch raus!» Beim zweiten Blick stutze ich aber, denn das Grün fährt nicht weg. Und es ist auch kein Container. Es ist ein seltsamer Pelz, der sich wogend über den Boden ergiesst. Grüne Haare der Erde. Darin tummeln sich kleine, violett-­weisse Punkte. Ein erstes Krokuskribbeln am Strassenrand. Ich bleibe verblüfft stehen und verpasse meinen ach-so-wichtigen Bus. Ganz langsam und aufmerksam drehe ich meinen Kopf und werde Blick für Blick der Verwandlung der Welt gewahr: In allen Schaufenstern kringeln sich Blumenranken. Schokoladenweihnachtsmänner sind zu Osterhasen geschmolzen. Der Supermarkt ist bis zur Decke vollgepackt mit Spargeln, Radieschen und Rhabarber. Vorgärten explodieren. Der Wald ergrünt und summt. Vögel stimmen in die Melodie mit ein. Und überall riecht es nach Bärlauchpesto! Der nächste Bus fährt mich nicht zu meinem Termin, sondern zum Pflanzenhändler meines Vertrauens. Darin decke ich mich mit Blüten aller Formen und Farben ein. Ich häufe blaue, gelbe, rote Pünktchen, die von Grün umgarnt werden, in meinen Einkaufskorb. Zu Hause schmücke ich die Wohnung mit dem mitgebrachten Frühling. Kresse in die Küche, Schlüsselblumen zur Eingangstür, Stiefmütterchen aufs Klavier, Maiglöckchen aufs Sims, Vergissmeinnicht zur Schreibmaschine und die Himbeerenstaude auf den Balkon. Ich werde immer wilder, stelle Nelken ins Bad, ordne Narzissen auf dem Wohnzimmertisch an und arrangiere Armenische Traubenhyazinthen im Bücherregal zurecht. Bevor ich auch noch eine Birke in die Raummitte zu pflanzen beginne, halte ich erschöpft inne. Erde bröselt mir aus den Haaren. Ich öffne das Fenster und atme tief ein. Das Blau der Luft riecht wie neu aufgemalt.
Die 22-jährige Slam-Poetin studiert Germanistik und Psychologie an der Universität Bern. In ihrer Kolumne für die Wohnrevue schreibt sie über den Frühlingsbeginn.

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