Unterwegs und doch zu Hause

Ich mache also Poetry-Slam. Ich lebe davon, Abend für Abend auf einer anderen Bühne zu stehen und während sechs Minuten meine lyrischen Texte vor wildfremden Menschen freizulassen. Trotz beschwerlicher Reisen, unzähligen Zugdebakeln, Sturmwarnungen, Stress, Staus, Übernachtungen auf Sofas, Klappbetten in winzigen Hostelzimmern und der alkoholbedingten, morgendlichen Katerbekanntschaft – oder gerade deswegen – fühlt sich Poetry-Slam manchmal doch wie ein kleines Rockstarleben an. Es ist ein glitzernd-verruchtes Universum, in das man sich hineinwirft, ohne sich je wieder herausretten zu wollen. Über die Jahre wurden aus Mitstreitern Freunde und Geliebte und aus gemeinsamen Erlebnissen kostbare Schätze. Und ohne Slam wären meine Geografiekenntnisse noch bedauernswerter, als sie sowieso schon sind. Wie kleine Punkte tragen sich die Auftrittsorte auf einer mentalen Karte meines Kopfes ein. Man landet in den kleinsten Städtchen und riesigen Metropolen, im 4-Stern-­Hotel und in der verrauchten Kneipe nebenan. Während im Norden die Insel Sylt meinen Auftrittsradius begrenzt, ist es im Westen das liebe Paris. Doch schon die Schweiz allein birgt so manche begehrte Destination, die von uns Slam-Poeten heimgesucht wird. Kurz: Der Zug ist mir ein Zuhause geworden. Und jeder Tag ein Abenteuer. Also lande ich schliesslich auch in Chur. Als gebürtige Baslerin habe ich mir die Alpenstadt am anderen Ende der Schweiz bis zuletzt aufgespart. Eine Veranstaltung im Rahmen der Nachhaltigkeitswoche SSW darf dies nun ehrenvoll ändern. Der Text, den ich in meinen Kopf gepackt habe, wurde aus einer früheren Veranstaltung recyclet – ganz nachhaltig eben. Ich fahre von Bern aus in den Abend hinein. Wellen schlagen kleine Kerben ins Wasser des Zürichsees. Dahinter kommen die ersten Horden von Bergen. Sie ducken sich zärtlich ins Gras und können, ihrer Grösse wegen, doch nie Verstecken spielen. Sie fressen Himmelsmeter und die Sonne. Dann nebelt sich das Draussen ein. Ich steige aus dem Zug, mitten in eine inszenierte Unheimlichkeit hinein. Der Kulturort «Cuadro22» liegt etwas abgelegen an einer unwirtlichen Strasse. In der fiesen Kälte stürzt mein Handy ab. Ich verlaufe mich mehrmals. Endlich finde ich das graue Gebäude an der Ringstrasse 22. Hinter der schweren Holztür erwarte ich alles oder nichts. Doch kaum umgibt mich das verspielte Innenleben der Galerie, werde ich einer Wunderwelt gewahr. Möbel und Kunstwerke verschmelzen ineinander, der Stil schwankt gekonnt zwischen schäbig und chic, die Wände sind bunt bebildert, die Bar futuristisch beleuchtet. In einzelnen Räumen kann man Installationen bestaunen. Sogar die Toilette ist Kunst. Ich werde von meinen Freunden eifrig umfangen. Wir setzen uns mit einem Bier in der Hand auf den rustikalen Holzboden hinter den Zuschauerreihen. Die Moderatoren beginnen die Show. Chur hält noch einiges für mich bereit, darunter: Ein «Food-Waste»-Slam im Sommer (die Stadt sammelt fleissig Karmapunkte). Ein Platzregen mit Musik im Ohr und Rausch in den Beinen. Ein imposanter Dachterrassen-Blick auf den Calanda. Jetzt aber höre ich meinen Namen rufen. Die Bühne wartet. Die Worte wollen stürmen. Mein Herz glüht. 

Die 22-jährige Slam-Poetin studiert Germanistik und Psychologie an der Universität Bern. In ihrem Text erzählt sie von einem Auftritt in Chur.

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