Als Siddhartha erneut an dem Fluss stand, den er einst überquert hatte, um sein Zuhause zu verlassen, war er tief ergriffen, wie Hermann Hesse beschreibt: «Im Herzen hörte er die Stimme sprechen, die neu erwachte, und sie sagte ihm: Liebe dies Wasser! Bleibe bei ihm! Lerne von ihm! O ja, er wollte von ihm lernen, er wollte ihm zuhören. Wer dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde, so schien ihm, der würde auch viel anderes verstehen, viele Geheimnisse, alle Geheimnisse.» Das Wasser verstehen – das klingt intuitiv irgendwie gar nicht so intuitiv. Wie kann das Element Wasser so etwas wie Wissen besitzen? Und können wir davon lernen? Aber obwohl das Wasser nicht wirklich kommuniziert, hat es eine starke Anziehungskraft auf uns: In Städten zieht es Menschen an Flüsse und Seen, um zu plaudern, sinnieren, geniessen, im Sommer zieht es Menschen ans Meer, um in Muscheln eingefangene Wellen zu suchen und mit nach Hause zu nehmen. In Geschichten spielen als Spiegel verkleidete Wasseroberflächen Segeluntergrund für Gedanken, und an wohl jedem fliessenden und stehenden Gewässer findet sich irgendwo eine Sitzbank mit Blick in die Weite, über das Wasser. Mir scheint, als brächte uns die Gegenwart des Wassers eine gewisse Ruhe, einen Ort, an dem Raum für Reflektion und Austausch mit sich und der Welt möglich ist. Mein Vater geht seit einiger Zeit jeden Tag schwimmen. Auch im Winter. Ich beobachte und bewundere ihn dabei, wie er sich jeden Tag in die Obhut des Wassers begibt und mit seinem ganzen Körper die Wahrnehmung der langsamen, aber steten Temperaturschwankungen rituell zelebriert. Hat ihm das Wasser schon ein stilles Geheimnis verraten? Sich vom Wasser umströmen lassen, untertauchen, hören, wie das Wasser über die Kieselsteine gespült wird: Woher kommt unsere Faszination? Vielleicht vom hohen Wasseranteil unseres Körpers? Von der latenten Erinnerung aus unserer Zeit im Mutterleib? Oder ist sie ein Überbleibsel aus Urzeiten, in der unser Körper – nicht nur unsere Augen – von Wasser umspült war? Blinzeln Fische? Weinen Fische? Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist nahe am Wasser gebaut, und ich habe es geliebt. Bei offenem Fenster hörte ich das Rauschen des Baches, eine immerwährende Veränderung, die sich nie wiederholt und doch immer gleich bleibt und damit manchmal die Zeit auflöste. Ich ertappe mich heute manchmal dabei, wie ich im nächtlichen Verkehr der Stadt den fliessenden Bach zu finden versuche. Am Wasser zu wohnen, war für mich Normalität, und doch war es die ganze Zeit etwas Spezielles. Wir sprangen von der Brücke, tauchten unter der geöffneten Schleuse durch, hielten unsere Füsse ins Loch im Wehr und spürten, wie das Wasser an unseren Zehen sog, wir suchten nach verlorenen Schätzen und fanden rostige Fahrräder und iPods, wir liessen Steine hüpfen und sprangen aus dem Wasser, wenn ab und zu die Wasserratte an uns vorbeischwamm. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, dass mir das Wasser tatsächlich viele Geheimnisse beigebracht hat. Aber verraten möchte ich diese nicht. Ich weiss nicht einmal, ob ich das könnte …
Der 21-jährige Slam-Poet Jonas Balmer studiert Kulturanthropologie sowie Philosophie an der Universität Basel.