Radikale Liebe auf den ersten Klick

Wort: Bernadette Bissig / Bild: Karin Bürki/Heartbrut
Die Autorin Karin Bürki entdeckte ihre Liebe zum Brutalismus in London. Dort begann sie, während eines Aufenthaltes markante Gebäude fotografisch einzufangen. Heute sorgen ihre Guides «Cartes Brutes» für Orientierung.

«Man liebt oder hasst ihn», so bringt es Karin Bürki auf den Punkt. Die Rede ist von Brutalismus. Wie es um die Haltung der Autorin und Fotografin zu der Architekturströmung bestellt ist, die ab den 1950er-Jahren aufkam und verschiedene Ausprägungen aufweist, liegt auf der Hand. Die Postkarten, die nach ihrem Kunststudium am Central Saint Martins College of Art and Design in London entstanden, markierten den Anfang ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema. Auch nach ihrer Rückkehr in die Schweiz blieb die Faszination so gross, dass sie 2019 das Format Heartbrut gründete und sich seither für die Bekanntmachung und den Erhalt des Schweizer Betonerbes einsetzt. In Zürich führte sie die Postkartenserie weiter – was ein einfacher Weg gewesen sei, um die Herzen zu erobern – und zog die Umsetzung eines Guides in Form einer Faltkarte in Erwägung. Daneben bespielte sie ihre Webseite und ihren Instagram-Account mit Brutalismus-Trouvaillen.

Dramatische Inszenierungen
Bürki ist fasziniert von den kühnen skulpturalen und geometrischen Formen der Bauten. «Brutalistische Gebäude sind für mich markante Ausrufezeichen aus Sichtbeton», sagt die Zürcherin, die mit ihrer Arbeit bewegen will. Beim Fotografieren setzt sie nicht auf klassische Architekturfotografie, sondern auf eine Umsetzung, bei der die Genres verschmelzen. In den Bildern will die Autorin und Fotografin, die von der Porträtfotografie herkommt, dramatische Inszenierungen erreichen. «Ich stelle die Bauten freier dar, schaue sie wie Models an, die es ins beste Licht zu rücken und deren Besonderheiten es hervorzuheben gilt.» An Objekten des Brutalismus mangelt es ihr dabei in keinerlei Weise, hatte doch die Schweiz von Anfang an eine führende Rolle in dieser Bewegung inne. Im Gegensatz zu Grossbritannien zeichneten sich die Schweizer Bauten zudem durch eine hohe handwerkliche Qualität aus. Und nicht zuletzt war es auch ein Schweizer, der die Benennung der Architekturströmung massgeblich mitprägte: Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt unter dem Pseudonym Le Corbusier. Der Architekt beschrieb mit «béton brut» den sichtbar belassenen Beton seiner Unité d’Habitation in Marseille.
In Grossbritannien entstand daraus der Brutalismus, der von schnörkellosen geometrischen Formen, rohen Materialien und grossen Gesten geprägt ist.

Ist Beton heute wegen seiner schlechten Klimabilanz nicht unumstritten, so war das Material in der Nachkriegszeit äusserst beliebt. Kostengünstig und frei formbar, ermöglichte es neue architektonische Ausdrucksformen. Viele der damals entstandenen Wohnsiedlungen, Schulanlagen, Sakral- und Kulturbauten stehen heute als Objekte von nationaler oder regionaler Bedeutung unter Denkmalschutz. Filigrane Infrastrukturbauten wie Brücken und Viadukte zeugen von grosser Ingenieurskunst.

Eine Perle um die andere
Dabei blickt Bürki nicht nur zurück, sondern bezieht auch zeitgenössische Architektur mit ein, die für sie im Sinne des Brutalismus entworfen sind. Etwa das Roccolo in Castasegna von Miller & Maranta, das Tanzhaus in Zürich von Barozzi Veiga oder der Swissmill Tower von Hhplus in Zürich, die zeigen, dass die Schweiz nach wie vor dem Baustoff Beton zugewandt ist. Dabei kommt oft Recyclingbeton zum Einsatz. Darüber hinaus sind zahlreiche Forschungen und Bestrebungen im Gange, um Beton klimaverträglicher zu machen. Mittlerweile hat Bürki zahlreiche Kartensujets sowie vier «Cartes Brutes»-Faltkarten umgesetzt. Somit schuf sie ein dichtes Netz der vorhandenen Betonperlen. Zudem bestreitet sie Talks und Führungen. Als Nächstes steht ein Buchprojekt an.
heartbrut.com


 

 

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