Wort: Bernadette Bissig / Bild: Marion Nitsch
Vor fast 80 Jahren erschien Simone de Beauvoirs Werk «Das andere Geschlecht» – ein Schlüsseltext der zweiten Welle des Feminismus. Trotz vieler Fortschritte sind Frauen – auch in der Designszene – nach wie vor mit patriarchalen Strukturen und Marginalisierung konfrontiert. Die Soziologin Gerda Breuer spricht im Interview über die Herausforderungen, denen Frauen heute noch begegnen.
Welche Unterschiede stellen Sie heute zwischen Frauen und Männern in der Designszene fest?
Nach wie vor sind überzeugende Argumente immer noch Statistiken. Und da liegt der Proporz häufig zugunsten der Männer. Studentinnen des Pratt Institute in New York haben 2018 in ihrer empirischen Analyse festgestellt, dass in den Designfakultäten der Vereinigten Staaten die Mehrheit der Grafikdesign-Studierenden Frauen sind, rund 75 Prozent. Die Mehrheit der Professorinnen und Professoren wiederum ist männlich, rund 75 Prozent. Die Ursache für die Ungleichheit ist in meinen Augen ein systemisches Problem: Diskriminierende Mikrostrukturen wirken, Rahmenbedingungen traditioneller Verantwortlichkeiten wie Kinderaufzucht, die ungleiche Verteilung von Haushaltstätigkeiten, Care-Arbeit im familiären Umfeld bestehen nach wie vor. Wir sind leider an Dichotomieketten gewöhnt, wie männlich – weiblich, öffentlich – privat. Auch wenn dies eine Konstruktion ist, wirkt sie doch entgegen von Diversität.
Was können, respektive müssen wir als Gesellschaft aus der Geschichte lernen?
Geschichte kann Vorbild sein, wir können Konzepte und Konstellationen studieren, aber sie liefert keine Rezepte. Nehmen Sie beispielsweise das Wohnen in der Moderne. Es ist ein gesellschaftlicher Schauplatz, auch wenn es noch so privat erscheint. Zum Beispiel suggeriert der irreführende Begriff Bauhaus-Architektur oder -Design, dass Rezepte zeitlos sind. Beim genaueren Hinsehen kann man aber den Prozess und die Faktoren erkennen, die bei den Anordnungen des Wohnens mitspielten, auch was die Zuschreibung an Geschlechter betrifft.
Wie essenziell ist die Aufarbeitung der Geschichte für die Sichtbarkeit von Designerinnen?
Geschichte ist nicht neutral. Das gilt auch für die Erinnerung: Verschweigen und Ignorieren, Lächerlichmachen und Diskriminieren zählen zur Geschichte von Frauen, es sei denn, wir arbeiten sie anders auf. Vieles in der Geschichte von Frauen ist verschüttet. Man braucht nur an der Oberfläche zu kratzen und es tut sich eine andere historische Realität auf. Deshalb muss die historiografische Aufarbeitung zugunsten von Frauen umgeschrieben und darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Diskrepanz eine Konstellation sozialer und kultureller Narrative ist.
In welchem Zusammenhang steht die historische Aufarbeitung von Designerinnen mit der Sichtbarmachung von zeitgenössischen Gestalterinnen?
Ich bin der Meinung, dass die Emanzipation der Frau eine heroische Geschichte ist. Frauen sollten sich dessen bewusst sein und sich davon beflügeln lassen. Das vermittelt ein grösseres Selbstbewusstsein. Frauen haben dann nicht den Eindruck, dass sie am Anfang eines Prozesses der Gleichberechtigung stehen.
Welche Möglichkeiten haben Frauen selbst, um Veränderungen in der Designszene aktiv voranzutreiben?
Sehr imponiert hat mir die Gruppe «See Red Women’s Workshop» aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die sich in ihrem Engagement für Frauen – viele übrigens aus den Kolonien Englands – auf ihr lokales Umfeld, das heisst einen Stadtteil in London, bezog und Grafikdesign für Proteste einsetzte. Das war der Inbegriff der Selbstermächtigung. Frauen dürfen nicht darauf warten, dass sich etwas ändert – im unmittelbaren Umfeld gibt es viele Möglichkeiten.
Sind Designschaffende in der Verantwortung, gesellschaftliche Themen aufzugreifen? Wenn ja, wie?
Mit dem, was Design kreiert, prägt es zugleich Werte unserer Gesellschaft. Es hat indes lange zum schlechten Image von Design beigetragen, da Designerinnen sich allein als Dienstleisterinnen betrachteten. Sie nehmen sich heute viel grössere Freiheiten heraus und fordern ihre Autonomie ein. Das ist ein sehr guter Prozess. Auf jeden Fall verfügt Design über eine hohe Professionalität, sich visuell zu positionieren und Tendenzen zu bekräftigen.
Welche gesellschaftlichen oder institutionellen Strukturen stehen Frauen in der Designbranche weiterhin im Weg? Braucht es mehr Reformen oder eher alternative Ansätze?
Ich glaube, Designerinnen müssen im Spiel bleiben, sich öffentlich präsentieren, vernetzen, die Mikrostrukturen bearbeiten. Die Gefahr, wieder zurückgedrängt zu werden, ist sehr gross. Und ich bin der Meinung, dass sie nicht einfach nur um ihre eigene Sichtbarkeit kämpfen sollten, sondern sich immer in Bezug zu Frauenthematiken bewegen sollten.
Wie wichtig sind Netzwerke und gezielte Förderprogramme für Frauen in der Designwelt? Braucht es mehr Plattformen, um Designerinnen sichtbarer zu machen?
Frauen sollten in meinen Augen stärker in bereits existierenden Designinstitutionen agieren, um dort Machtstrukturen zu thematisieren und um auf Grauzonen, blinde Flecken und Leerstellen aufmerksam zu machen. Viele dieser Institutionen sind nach wie vor Schauplatz patriarchaler Strukturen. Sich auszugrenzen in autonomen Frauengruppen, birgt die Gefahr in sich, dass die Kommunikation zwischen den Geschlechtern eingeschränkt ist.
Wie nehmen Sie die mediale Präsenz von Designerinnen heute wahr? Sind Museen, Designpreise und Institutionen ausreichend divers aufgestellt?
Die mediale Präsenz von Designerinnen ist in kulturellen Bereichen heute gross. Es erscheint mir aber, dass unausgesprochen ein gewisser Druck bestehen muss: Die männlichen Akteure müssen wissen, dass sie sich bestimmte Dinge, wie das Ignorieren von Frauen, nicht mehr erlauben können.
Die gebürtige Aachenerin studierte Kunstgeschichte, Baugeschichte, Philosophie und
Soziologie an der RWTH Aachen. Nach einem mehrjährigen Promotionsstipendium promovierte sie in Kunstgeschichte und schloss ihr Soziologiestudium mit dem Magister Artium ab. Sie war Professorin für Kunst- und Designgeschichte an der Universität Wuppertal und leitete von 2005 bis 2012 den wissenschaftlichen Beirat am Bauhaus Dessau. Ihre Laufbahn ist von zahlreichen Publikationen geprägt.
Gerda Breuer / Julia Meer, Woman in Graphic Design
1890–2012, ISBN 978-3-86859-153-8, Jovis Verlag;
Gerda Breuer, HerStories in Graphic Design,
ISBN 978-3-86859-773-8, Jovis Verlag